Michael Lembke vor Testberichte.de-Logo Michael Lembke blickt auf über 30 Jahre Berufserfahrung als Physiotherapeut mit eigener Praxis in Berlin-Wilmersdorf zurück. (Bildquelle: Testberichte.de)

Ergonomisch Sitzen im Büro: Tipps vom Experten

Rückenschmerzen sind der häufigste Grund für krankheitsbedingte Fehltage. Das kostet. Die Krankenkassen sparen nicht mit harschen Vorwürfen. Einem Bericht der DAK zufolge sind Rückenschmerzen „eine Konstante im Arbeitsunfähigkeitsgeschehen“. Woran liegt das? Ist etwas faul an den allgemein verbreiteten Bürostühlen? Unser Experte, Physiotherapeut Michael Lembke aus Berlin-Wilmersdorf, hat in über 30 Berufsjahren viel Wissen angesammelt – und verrät Ihnen im Interview das Wichtigste zum rückengesunden Sitzen.

Sitzen ist das neue Rauchen, lautete eine Zeitlang das Credo der Orthopädie. Was ist von solchen Aussagen zu halten?

Sitzen ist mit Sicherheit genauso ungesund wie Rauchen, da stimme ich zu. Denn der Mensch ist nicht für das Sitzen geschaffen, sondern für die Bewegung. Was gesundes Sitzen anbelangt, so können Sie es sicherlich mit ein paar einfachen Tricks gesünder gestalten. Mit Blick auf die heutige Arbeitskultur des Sitzens sollten Sie zumindest auf einen guten Bürostuhl zurückgreifen.

Sitzen ist mit Sicherheit genauso ungesund wie Rauchen.

Der beste Bürostuhl – ist das einer, den die Hersteller gerne als ergonomisch bzw. rückenfreundlich vermarkten?

Bürostühle kann man sicherlich sehr gut werbewirksam mit den Begriffen „Anwort auf Rückenschmerzen“ und „Ergonomie“ bespielen. Natürlich haben wir alle unsere Vorlieben. Vielleicht haben Sie auch schon konkretere Vorstellungen davon, wie Ihr Bürostuhl aussehen soll. Aus physiotherapeutischer Sicht sind bei der Wahl eines Bürostuhls jedoch nur ganz wenige Kriterien zu beachten.

Welche Kriterien sind denn die wichtigsten bei einem Bürostuhl?

Beachten müssen Sie eigentlich nur drei Dinge: Der Bürostuhl sollte eine verstellbare Sitzhöhe haben, eine nach vorn neigbare Sitzfläche und eine – auch nur kleine – Rückenfläche in Gestalt der Lordosestütze. Wir Physiotherapeuten sprechen auch von einem Lordose-taktilen Reiz, also einem Berührungsreiz, der Sie an eine aufrechte, muskulär gestützte Körperhaltung erinnern soll.

Man kann beim Sitzen also tatsächlich etwas falsch machen. Worauf muss ich denn speziell bei der Lordosestütze noch achten?

Da Menschen unterschiedlich groß gebaut sind, kommt es maßgeblich auf die Höhenverstellbarkeit der Lordosestütze an. Nur dann kann sie ihre Wirksamkeit entfalten. Um es zusammenzufassen: Entscheidend für einen guten Bürostuhl ist, dass sich die Stütze – oder besser: eine taktile Reizhilfe – in die Sitzposition verstellen lässt, in der sich Ihre Lendenwirbelsäule befindet.

3D-Sitz, Sitztiefen- oder Neigungsverstellung: Haben solche Merkmale wirklich einen ergonomischen Nutzen?

Ein flexibel gelagerter Sitz, der sich auf das Nach-vorne-Neigen beschränkt, ist in Ordnung. Andere Bewegungsrichtungen halte ich für weniger sinnvoll, weil sie letztendlich zur Bewegung animieren und konzentriertes Arbeiten stören können. Ein Schiebesitz kann nützlich für sehr großen Menschen sein. Fänden die Hersteller da aber ein Mittelmaß, würden auch einfache Bürostühle für 90 Prozent aller Menschen passen. Sicherlich verdient auch der Handel kräftig mit; insbesondere die hochwertigen Materialien haben ihren Preis.

Apropos Preis: Manche Bürostühle in unserer Bestenliste liegen bei weit über 1.000 Euro, insbesondere die „Ergonomie“ hat ihren Preis. Geht es auch günstiger?

In den meisten Fällen ließe sich die Ergonomie deutlich preiswerter gestalten. Ausführung, Materialien und bewegungsfördernden Synchronmechaniken können einen Stuhl teuer machen. Aber es muss nicht in schwindelnde Höhen gehen. Es kann auch ein günstiger sein.

Gibt es einen bestimmten Hersteller, den Sie schätzen?

Einen bestimmten Hersteller favorisiere ich nicht. Wichtig ist nur, dass – wie schon erwähnt – Ihr Bürostuhl ausreichend höhenverstellbar und mit neigbarer Sitzfläche ausgestattet ist sowie eine Rückenfläche in Form der Lordosestütze aufweist.

Was ist besser: Ein Bürostuhl mit Armlehnen oder ohne? Mit Nackenstütze oder ohne?

Nackenstützen sind überflüssig. Sie gehören nicht an einen Bürostuhl, weil sie nicht der Ergonomie dienen. Was die Armlehnen betrifft, so sollten Sie Stuhl- und Tischhöhe miteinbeziehen. Man sollte die Handballen bequem auf den Tisch bzw. auf die Tastatur legen können. Armlehnen können da stören, wenn sie an den Tisch stoßen. Wenn Sie Wert auf Armlehnen legen, dann sollten es wegklappbare oder höhenverstellbare sein, die sich auf das übrige Sitzniveau anpassen lassen.

Was raten Sie Eltern, die ihrem Kind zur Einschulung einen Kinderdrehstuhl kaufen möchten?

Die Frage ist relativ einfach zu beantworten: Ein guter Kinderstuhl ist nicht viel mehr als ein ausreichend hoher Hocker. Der muss auch nicht höhenverstellbar sein. Kaufen Sie nach jedem Wachstumsschub lieber einen neuen Hocker in der passenden Höhe. Klar, die Hersteller sehen das anders: Je mehr Bewegungsmöglichkeiten ein Stuhl biete, desto mehr komme er dem natürlichen Bewegungsdrang der Kleinen entgegen. Aber erfahrungsgemäß wird das Kind diese Bewegungsmöglichkeiten auch ausnutzen, was jedoch nicht unbedingt zum konzentrierten Arbeiten beiträgt. Wichtiger als die Beweglichkeit des Stuhls ist, dass Ihr Kind zwischendurch aufsteht und sich selbst bewegt.

Ein guter Kinderstuhl ist nicht viel mehr als ein ausreichend hoher Hocker.

Noch einmal zurück zum ungesunden Sitzen: Haben Sie viele Patient:innen, die mit dem richtigen Bürostuhl „Rücken“ hätten verhindern können?

Ich denke, dass man auch mit dem besten Bürostuhl ein schon vorhandenes Rückenproblem nicht in den Griff bekommt. Das schafft ein Stuhl allein nicht. Der Bürostuhl kann aber eine Hilfe sein, um das richtige Sitzen zu erleichtern. Da gibt es noch viele andere Maßnahmen, die man ergreifen müsste, zum Beispiel Ausgleichssport.

Ich denke, dass man auch mit dem besten Bürostuhl ein schon vorhandenes Rückenproblem nicht in den Griff bekommt.

Welche Fehler bemerken Sie bei hart gestressten Bildschirmarbeitenden am häufigsten?

Viele PC-Arbeiter sitzen einfach zu lange vor dem Bildschirm. Es werden viel zu wenig Sitzpausen gemacht. Irgendwann während langer Sitzphasen vernachlässigt man dann die aufrechte Haltung. Oftmals ist der Bildschirm auch nicht auf die richtige Höhe eingestellt.

Krankenkassen haben ermittelt, dass rund ein Viertel aller Fehltage durch Rückenleiden verursacht wird. Die Unternehmen versuchen, mit Programmen für Bewegung und Stressmanagement gegenzusteuern. Was halten Sie vom betrieblichen Gesundheitsmanagement?

Solche Maßnahmen halte ich für sinnvoll, wenn sie auf schädliches Verhalten am Arbeitsplatz aufmerksam machen. Damit können Impulse zur Verhaltensänderungen gegeben werden. Ausschlaggebend ist aber immer das Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Nur auf die Arbeitsplatz-Ergonomie abzustellen, wird nicht reichen – etwa auf die Schreibtischhöhe, die Bildschirmposition, den Bürostuhl, die Einstellungsmöglichkeiten. Vor allem ist der Mensch selbst gefordert. Aus meiner Sicht sind Rückenleiden mit einem ergonomischen Bürostuhl nicht in den Griff zu bekommen. Er kann aber die Arbeitsplatzsituation verbessern. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs.

Rückenleiden sind mit einem ergonomischen Bürostuhl nicht in den Griff zu bekommen. Vor allem der Mensch selbst ist gefordert.

Würden Sie also sagen, dass nicht so sehr der bewegungsaktive Super-Bürostuhl Rückenleiden verhindert, sondern eher der Mensch, indem er sich rückenfreundlich verhält?

Ich würde den Bürostuhl sogar als dritt- oder viertrangig bezeichnen. Grundsätzlich müssen wir Menschen dem Bewegungsapparat Rechnung tragen. Wir müssen uns mehr bewegen. Das ist das Entscheidende. Nicht die Entlastung ist das, was wir Menschen brauchen, sondern die Belastung. Technisch hochgerüstete Bürostühle dienen dem Menschen nicht. Machen Sie sich bewusst: Alles, was Sie nicht mehr bedienen, geht Ihnen letztendlich verloren.

Technisch hochgerüstete Bürostühle dienen dem Menschen nicht. Wir müssen uns mehr bewegen, das ist das Entscheidende.

Herr Lembke hat sich spontan bereiterklärt, uns vor der Kamera die wichtigsten Aspekte eines ergonomischen Bürostuhls vorzuführen.

Ergonomie-Kompass: Verkaufsfördernde Argumente der Händler

Wir haben uns mit Physiotherapeut Michael Lembke einige Verkaufsargumente der Hersteller für Sie angesehen. Wenig überraschend: Vieles ist reines Marketing.

Aeris Impulsmöbel Swopper mit 3D-Sitzfläche Der Aeris Impulsmöbel Swopper. (Bildquelle: aeris.de)

Aeris Impulsmöbel zum Swopper: „Durch die 3D-Bewegung des Aktiv-Stuhls Swopper entfallen einseitige Druckbelastungen der Bandscheiben. Swoppen hält die Bandscheiben gut ernährt, elastisch und gesund.“

Michael Lembke: Grundsätzlich hilft es der Bandscheibe, wenn sie durch Druck und Bewegung belastet wird. Davon lebt sie letztendlich. Doch diese Aufgabe lässt sich schwer auf einen Bürostuhl übertragen, der Sie permanent in Bewegung hält. Ständiges Wippen und konzentriertes Arbeiten, vor allem das Tippen auf der Tastatur, passen meiner Ansicht nach nicht zusammen. Für sinnvoller halte ich es, nach etwa zwei Stunden eine Sitzpause einzulegen und sich in dieser ausreichend zu bewegen.

Rohde & Grahl zum Xilium mit Duo-Back-Rückenlehnen-Variante: „Die Duo-Back Rückenlehne ... reduziert den Druck auf die Wirbelsäule um bis zu 50 Prozent gegenüber herkömmlichen Rückenlehnen.“

Bürostühle Xilium und Steelcase Bürostühle im Vergleich: Rohde & Grahl Xilium mit geteilter „Duo-Back“-Rückenlehne und Steelcase SILQ. (Bilder: rohde-grahl.com und steelcase.com)

Steelcase zum SILQ: „SILQ ist so konzipiert, dass er auf alle Veränderungen Ihrer Sitzhaltung reagiert, einfach nur, indem Sie auf ihm sitzen – gerade so, als würde er Sie kennen.“

Michael Lembke: Grundsätzlich ist zu diesen Stühlen zu sagen, dass sie dem Sitzenden unglaublich viel an Dingen, die er eigentlich selbst erbringen müsste, abnehmen. Dabei sollte es umgekehrt sein: nicht in Richtung Entlastung, sondern mehr in Richtung Belastung denken. Denn alles, was Sie Ihrem Körper nicht mehr an Belastung zukommen lassen, geht Ihnen langfristig verloren.

Alles, was Sie Ihrem Körper nicht mehr an Belastung zukommen lassen, geht Ihnen langfristig verloren.

Bürostuhl für Frauen Topstar Lady Sitness Deluxe „Frauengerechte Schaumzonen“: der Topstar Lady Sitness Deluxe. (Bildquelle: topstar.de)

Topstar zum Lady Sitness Deluxe, einem speziell für Frauen entwickelten Bürostuhl: Sitzfläche mit sieben frauengerechten Schaumzonen und … integriertem Federkern, speziell konzipiert auf die weibliche Ergonomie.“

Michael Lembke: Hier soll offenbar ein Problem gelöst werden, das gar keins ist. Ich denke, man kann die behaupteten Besonderheiten der weiblichen Ergonomie völlig außer Acht lassen. Mir sind auch keine Untersuchungen oder belastbaren wissenschaftlichen Aussagen in dieser Richtung bekannt.

 

Nowy Styl zum Net Motion: „Vielseitige Optionen ermöglichen unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten: Es wird eine Anpassung an … das Gewicht des Nutzers ermöglicht.“

Nowy Styl Net Motion mit Kopfstütze Der Nowy Styl Net Motion mit Gewichtsanpassung. (Bildquelle: amazon.de)

Michael Lembke: Da die Rückenlehne bei einem ergonomischen Bürostuhl nicht dazu dient, sich anzulehnen, sondern lediglich eine taktile Hilfe für die Lendenwirbelsäule darstellt, ist auch ein gewichtsabhängiger Lehnen-Gegendruck aus meiner Sicht nicht notwendig.

Fazit: Ergonomie lässt sich auch preiswert gestalten, sagt Michael Lembke. Höhere Kosten verstecken sich hinter Ausführung, Materialien und bewegungsfördernden Sitzmechaniken. Wichtig ist jedoch nur, dass ein Bürostuhl in der Sitzhöhe verstellbar ist, eine neigbare Sitzfläche hat und eine – auch nur kleine – Rückenfläche in Form der Lordosestütze aufweist. Dabei reicht schon ein Lordose-taktiler Reiz. Das alles können auch günstige Stühle leisten.

Die besten Bürostühle

von Sonja Leibinger

Fachredakteurin im Ressort Home & Life – bei Testberichte.de seit 2012.

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